Soeben erst sind die Rufe des Muezzin verklungen, langsam erwacht Luxor aus dem nächtlichen Schlaf. Noch tief in ihre weiten Jellabia einwickelt, trinken die Wächter mit müdem Blick wortkarg ihren ersten Tee. Sie nicken nur, als wir an ihnen vorbeigehen, so früh morgens scheinen sie noch nicht zu den sonst obligaten Späßen aufgelegt.
Wir passieren die Sicherheitskontrolle und gelangen an eine Allee mit Widdersphinxen, die den Zugang zum Tempel flankieren. Sie sollten als Wächter der Pforte den Tempel vor schädlichen Einflüssen schützen. Dahinter trutzt mächtig der unvollendete Eingangspylon, 113 Meter breit und 43 Meter hoch. Sein Durchgang gibt den Blick frei auf die erste Halle, die Säulenhalle des Taharka, von der noch eine einzige Säule erhalten ist. Rilke hat sie so treffend als die eine, die Ägyptens Nacht trägt beschrieben. Vorbei an einer Kolossalfigur des Pinodjem durchschreiten wir den Eingang des zweiten Pylons, dessen Reliefs wie vergoldet in der Sonne schimmern.
Hier verharren wir für einen Sekundenbruchteil überwältigt: Vor uns liegt der große Säulensaal, der bedeutendste und wohl auch bekannteste Teil des Tempels von Karnak. Von Sethos I und Ramses II erbaut, gilt er als ein Wunder der Antike, er ist die größte Tempelhalle der Welt. Auf einer Fläche von 5.356 Quadratmetern ragt ein Wald von 134 monumentalen Säulen in den Himmel und dokumentiert anschaulich und eindrucksvoll die Größe und Macht Ägyptens zur Zeit des neuen Reiches.
Dabei wurde diese Halle niemals als Saal oder Versammlungsort genutzt, sondern symbolisierte einen heiligen Hain, der als Rahmen für den Prozessionsweg der Barke gedacht war. Im metaphorischen Sinne stellten die Säulen die Bäume dieses Waldes dar und in der Tat sind sie so angeordnet, dass man nur dem Wege folgend und niemals diagonal durch den Raum blicken kann.
Über 1.600 Jahre, vom Mittleren Reich bis zur Römerzeit, wurde der Karnak-Tempel, dieser gewaltigste unter den Tempeln Ägyptens, ständig umgebaut und erweitert. Fast jeder ägyptische König ließ sich hier für die Nachwelt verewigen, suchte seine Vorgänger zu übertreffen oder zerstörte bestehende Bauten, um daraus Neues zu schaffen. So entstand im Laufe der Jahrhunderte eine mit nichts zu vergleichende, riesenhafte Tempelstadt. An einem Fund werden die gigantischen Dimensionen deutlich: Der französische Ägyptologe Legrain fand 1903 auf dem Gelände des Tempels eine Grube mit 779 steinernen und 17.000 bronzenen Statuen, Standbildern von fast allen bekannten Herrschern vom Mittleren Reich bis in die Spätzeit. Man vermutet, daß Ptolemäus III oder VI im übervollen Amun-Tempel ganz einfach Platz schaffen wollte und die Statuen deshalb kurzerhand begrub.